Nehm ich jetzt Speed und verbessere damit meine Talente oder bleibe ich clean und enttäusche damit meinen Partner nicht? Will ich ein guter Cop sein oder schlage ich diesem rotzfrechen, ermittlungsbehindernden Kind jetzt ins Gesicht? Wie gehe ich mit Rassismus von Passanten um? Vor allem, wenn sich dieser gegen meinen eigenen Partner richtet? Dies sind nur ein paar Fragen, die ich mir während des Spielens von Disco Elysium gestellt habe.

Am 15.Oktober.2019 hat ZA/UM Studios Disco Elysium (endlich) auf Steam veröffentlicht. Ich hatte zwei Jahre darauf gewartet, nachdem ich es an ihrem kleinen Stand auf der Gamescom 2017 gesehen hatte und völlig hin und weg war von Artstyle, Idee und Gameplay dieses Spiels. Tatsächlich hatte ich mich selten so auf ein Spiel gefreut wie auf dieses. Ich war dementsprechend auch sehr weit vorne mit dabei, mir das Spiel zu kaufen.

Aber worum geht es denn eigentlich in Disco Elysium und warum begeistert mich das Spiel so?

Zu allererst einmal handelt es sich um ein (und jetzt schnallt euch an) sehr textbasiertes Detective-RPG-Point-and-Click-Adventure mit Pen&Paper-Elementen. Das klingt erstmal wie ein Haufen zusammengewürfelter Genres, funktioniert aber in der Praxis wesentlich besser, als es in der Theorie aussieht.

Wir spielen einen absoluten Versagercop, der in der Stadt Martinesse 1951 einen Mordfall aufklären muss. Der Knackpunkt an der ganzen Geschichte ist, dass unser Protagonist durch exzessiven, dreitägigen Drogen- und Alkoholmissbrauch komplett vergessen hat, wer, was, wo, warum und wann er ist. Der Mann weiß de facto rein gar nichts mehr, nicht mal mehr, wie er heißt. Er wacht in einem völlig zerstörten Hotelzimmer mit dem Kater seines Lebens auf und fragt sich, wieso er am Leben sein muss.

Quelle: ZA/UM studios

Im Laufe des Spiels stellt er fest, dass er wohl völlig inkompetent als Cop ist, für die Kündigung einer Mitarbeiterin in dem dortigen Hotel verantwortlich, sowohl seine Marke als auch seine Waffe verlegt hat und sein Polizeivehikel (1951 sehr teuer) irgendwo sehr tief in einem Strand versenkt hat. Nur um mal einige wenige Fehltritte unseres “Hobocops” (so wird er im Spiel gelegentlich bezeichnet), zu nennen. Er hat also so ziemlich alles falsch gemacht, was man als Cop so falsch machen kann.

Das klingt erstmal super bedrückend und als würde unser Protagonist nichts auf die Ketten bekommen, aber ihm steht sein überaus kompetenter Kollege Kim Kitsuragi zur Seite. Kim sieht in ihm erstmal einen Versager, auch wenn er sich alle Mühe gibt, ihn möglichst objektiv, ja sogar positiv zu betrachten. Er stellt so etwas wie das Engelchen auf unserer Schulter dar, welches uns nicht nur mit Rat und Tat zur Seite steht, sondern uns auch ins Gewissen redet, wenn wir uns beispielsweise Fehlverhalten einem Verdächtigen gegenüber erlauben oder mal wieder dem Drogenkonsum frönen wollen. Kim gibt uns auch immer wieder Erklärungen zur Welt, in der wir uns befinden und zur Geschichte selbiger.

Nach den ersten zwei Stunden wurde meine anfängliche Begeisterung allerdings von einer elementaren Erkenntnis getrübt. Disco Elysium spielt sich hauptsächlich, als würde man ein interaktives Buch lesen. Und lesen ist hier das Stichwort. Es besteht hauptsächlich aus Text. Sowohl Dialoge als auch so ziemlich sämtliche Sinneseindrücke werden ausschließlich über unvertonte, in englischer Sprache geschriebene Textpassagen rübergebracht und das kann gelegentlich etwas viel sein. Was mir auch schmerzlich klar wurde, denn ich bemerkte, wie ich viele Textpassagen einfach übersprungen habe oder durch Dialoge einfach durchgeklickt habe. Vor allem Passagen, die nicht direkt mit der Story zu tun hatten und dennoch endlos lang waren, störte mich, da ich ja wissen wollte, was passiert war.
Disco Elysium ist halt kein Spiel für Menschen, die A) kein Englisch verstehen und B) nicht viel lesen wollen. Eine Synchronisation hätte dem Spiel wirklich gut getan, doch ZA/UM Studios ist nun mal ein Indie Studio und die hatten dafür höchstwahrscheinlich kein Geld.

Ich bemerkte aber auf der anderen Seite auch: Je mehr ich dieses Spiel spielte, desto mehr verliebte ich mich in die einzelnen Charaktere und ihre Dialoge. So gut wie jeder Charakter hat seine eigene Persönlichkeit und Geschichte, die er erzählt. Vom nervigen, unterbelichteten Kind über den typischen Rassisten bis hin zum Streikbrecherführer hat jede Person in dieser Stadt eine eigene Persönlichkeit und es fühlt sich jedes Mal spannend an, mit neuen Personen zu interagieren. Zudem sind diese Persönlichkeiten auch noch mit so viel Tiefe geschrieben, dass sich kein Charakter generisch oder gar wie ein anderer Charakter anfühlt.
Außerdem entwickeln sich die Charaktere in ihren Handlungen und Aussagen, je nachdem, wie man sich entscheidet und verhält ihnen gegenüber. Es gibt sogar Erfolge dafür.

Quelle: Steam

Aber was macht Disco Elysium so einzigartig?
Das Talentsystem beispielsweise. Das besteht nämlich sowohl aus Attributen wie Ausdauer oder physische Stärke, als auch aus Sachen wie “Island Empire” (die träumerischen Fähigkeiten unseres Protagonisten), “Empathy” (diese Fähigkeit sagt einem, ob das Gegenüber die Wahrheit sagt beispielsweise oder was die Person gerade mutmaßlich empfindet) und “Electrochemistry” (das Suchtzentrum unseres Cops, welches ihn, falls man beispielsweise Speed findet, verleiten will selbiges zu nehmen). Diese werden gehandhabt wie bei einem Pen&Paper-Rollenspiel. Gelegentlich fragt das Spiel uns diese Fähigkeiten ab. Heißt, wenn wir beispielsweise eine Tür aufbrechen müssen, gibt uns das Spiel diese Möglichkeit und sagt uns, wie hoch die Chance ist, dass wir das schaffen basierend auf unserem Talent “Physical Instrument”, unserer physischen Stärke.

Quelle: ZA/UM studios

Der Clue an der ganzen Geschichte ist, dass wir mit diesen Talenten auch Dialoge führen. Ein Beispiel: Wir verhöhren gerade eine Zeugin, die den Mord mutmaßlich mit angesehen hat. Wir fragen sie, wo sie war. Vielleicht sind wir dabei auch nicht gerade so taktvoll wie wir sein sollten. Dann schaltet sich sofort unsere Empathy ein und sagt uns mittels Textpassage: “She disliked your behaviour. She seems a little hurt.” Also das hat sie nicht gemocht, du hast sie sogar verletzt. Oder ein anderes Beispiel: Wir starren auf eine weiße Hauswand und fragen uns, warum wir das tun. Plötzlich schaltet sich die Fähigkeit “Conceptualization”, also unsere Fähigkeit abstrakte Konzepte zu entwerfen, ein und sagt uns, da steckt etwas dahinter. Einen bestanden Skillcheck später und unser Conzeptualization erzählt uns, was das für eine geile Idee wäre, dieser Wand einen coolen neuen Anstrich zu verpassen.
Dieser Ansatz ist einfach, frisch und neu und gefällt mir wirklich sehr gut. So kommt es auch zu einigen humorvollen Auseinandersetzungen im Spiel.

Das Problem an Disco Elysium ist nur, dass ich oft das Gefühl hatte, die Autoren wollten mit ihrem Wissen angeben. Frei nach dem Motto: “Hey, schaut her, was wir alles wissen!” Das ganze manifestiert sich in Textpassagen, die unglaublich lang sind und sich ausschließlich mit der Geschichte von Bürgerkriegen und Philosophie befassen, allerdings gar nichts mit dem Fortgang unserer Geschichte zu tun haben. Das Ganze ist ganz nett, schlägt aber ein wie Geschichtsunterricht in der 5. Stunde an einem Freitag. Das reißt einen immer wieder aus der sonst so toll erzählten Geschichte heraus und nervt etwas, wenn man ganze Dialoge überspringen muss oder gar überfliegen, aus Angst man könnte etwas Wichtiges verpassen, obwohl man sie nicht lesen will, weil sie einfach nur Geschichts- und/oder Philosophiefakten enthalten.

Quelle: ZA/UM Studios

Ansonsten ist Disco Elysium allerdings, bis auf ein paar wesentlich zu lange Dialoge, ein spannendes, dramatisches und sehr gutes Spiel. Es fordert und erzählt eine sehr gute und humorvolle Geschichte. Die Charaktere sind alle sehr nachvollziehbar und tiefgreifend dargestellt und schaffen es, einen wirklich mit dem Erzählten mitfühlen zu lassen. Eine englische Sprachausgabe und eine deutsche Übersetzung fehlen zwar, aber solange man darauf gefasst ist oder das sogar mag, tut es dem Spielgeschehen keinen Abbruch. Disco Elysium schafft es wirklich, einen mitzureißen und hat sehr hohes Suchtpotential.